Gestern habe ich einen Vortrag über hochsensible Kinder gehalten und eine wichtige Frage blieb aus Zeitgründen unbeantwortet:
Was tun, wenn ein Kind in einer akuten Stresssituation „ausflippt“?
Dabei geht es nicht nur um den Umgang in der Kita oder Schule, sondern auch um konkrete Maßnahmen, die Eltern und andere Familienangehörige zuhause unterstützen. In diesem Beitrag zeige ich Dir evidenzbasierte Ansätze, wie Du dem wütenden Kind Raum geben kannst, seinen inneren Druck abzubauen und gleichzeitig andere Kinder oder Familienmitglieder vor Verletzungen schützt.

Zunächst ist es wichtig zu verstehen, was in einem Wutanfall passiert.
Wutausbrüche sind bei hochsensiblen Kindern häufig Ausdruck einer überwältigenden sensorischen und emotionalen Überlastung. Sie zeigen ihre inneren Konflikte nicht als absichtliches Fehlverhalten, sondern als Hilferuf, der signalisiert, dass die momentane Situation unkontrollierbar erscheint. Dabei kann es vorkommen, dass sie in ihrem emotionalen Ausdruck auch andere Kinder gefährden, sei es durch Tritte, Schläge, Bisse oder herumfliegende Gegenstände.
Konkrete Maßnahmen in der akuten Phase:
Unabhängig davon, ob Du in einer Gruppen- oder Familiensituation handelst, helfen folgende Schritte,
die Situation behutsam zu deeskalieren:
Ruhe bewahren: Deine Gelassenheit wirkt wie ein Anker. Ein ruhiger, empathischer Tonfall gibt dem Kind Sicherheit.
Emotionen beschreiben und anerkennen: Sag zum Beispiel: „Ich sehe, dass Du gerade sehr wütend bist. Es ist okay, so zu fühlen.“ Das hilft dem Kind, seine Emotionen anzunehmen, gleichzeitig fühlt es sich verstanden, was deeskalierend wirken kann.
Einfühlsame Annäherung: Beobachte das Kind genau und nähere Dich behutsam, wenn es erste Anzeichen der Öffnung zeigt. Während eines akuten „Wutanfalls“, der lediglich Ausdruck einer Reaktion auf Stress ist, wirst du das Kind möglicherweise nicht erreichen können, da ihm der Zugang zum reflektierten Denken für bis zu 30 Minuten verwehrt ist. Ein sanfter, respektvoller Umgang schafft Vertrauen.
Sensorische Deeskalation: Versuche, das Umfeld kurzfristig zu entschärfen, etwa durch gedimmtes Licht, leise Musik oder das Schaffen eines kleinen Rückzugsorts.
Falls das Kind zugänglich ist helfen Atemübungen: Gemeinsames, langsames Ein- und Ausatmen kann helfen, den Stresspegel zu senken. Achte auf deine eigene Atmung. Atme tief und möglichst ruhig, dass hilft dem Kind seine Atmung mit deiner zu synchronisieren.
Besonders in Gruppen (wie in der Kita oder Grundschule) ist es wichtig, auch an den Schutz der anderen Kinder zu denken:
Andere Kinder in Sicherheit bringen: Bitte Kinder, die sich in unmittelbarer Nähe befinden, in einen sicheren Raum außer Reichweite (Beispiel: Lasst uns mal kurz alleine in der Bauecke, bis sich euer Freund/ eure Freundin wieder beruhigen kann).
Behutsame Trennung: Wenn es notwendig ist, führe das wütende Kind in einen Ruhe- oder „Cool-Down-Bereich“. Das kann eine Ecke im Gruppenraum sein, das Außengelände, der Turnraum, ein Nebenraum,… . Dort kann es sich frei bewegen und seinen Stress abbauen, ohne andere zu gefährden.
Klare Ansprache: Erkläre in einfachen Worten, warum es wichtig ist, dass alle sicher sind. Zum Beispiel: „Ich merke, dass Du sehr aufgebracht bist. Lass uns in den Ruhebereich gehen, wo Du frei atmen und Dich bewegen kannst.“
Auch Eltern und Familienangehörige stehen oft ratlos da, wenn das Kind zuhause einen Wutanfall hat.
Hier einige Tipps für den Alltag:
Rückzugsorte schaffen: Richte im Kinderzimmer oder im Wohnbereich einen gemütlichen Bereich mit Kissen, Decken oder einem Zelt ein, in dem sich das Kind sicher zurückziehen kann. Wichtig für hochsensible Kinder: Nicht zu viel Spielzeug im Kinderzimmer!
Klare Rituale und Routinen: Feste Abläufe im Alltag können helfen, Überreizung vorzubeugen. Rituale vor dem Zubettgehen oder beim Übergang in den Abend können Sicherheit und Entspannung fördern.
Alternativen anbieten: Zum Stressabbau können weiche Stressbälle, Malbücher oder beruhigende Musik hilfreich sein, oder aber nach draußen gehen, hüpfen, rennen, springen.
Nachbesprechung: Sobald sich die akute Situation gelegt hat, sprich in Ruhe mit Deinem Kind über das Erlebte. Frage, was ihm geholfen hat und was es sich für das nächste Mal wünscht.
Langfristige Strategien und Aufklärung zur Vorbeugung ist der Schlüssel, um häufige Überreizung zu vermeiden.
Reizärmeres Umfeld: Schon kleine Anpassungen im Alltag wie Rückzugsmöglichkeiten oder bewusst ruhige Phasen können den Druck deutlich mindern.
Aufklärung und Sensibilisierung: Mir liegt es besonders am Herzen, nicht nur Eltern, sondern auch pädagogisches Personal, Großeltern und andere Bezugspersonen über Hochsensibilität aufzuklären. Ein verständnisvolles und sensibilisiertes Umfeld hilft, die Bedürfnisse hochsensibler Kinder zu erkennen und langfristig zu unterstützen.
Wutausbrüche bei hochsensiblen Kindern stellen uns vor große Herausforderungen, ob in der Kita oder zuhause. Mit einem achtsamen, evidenzbasierten Ansatz kannst Du in akuten Situationen nicht nur dem wütenden Kind helfen, seinen inneren Druck abzubauen, sondern auch die Sicherheit und das Wohlbefinden der anderen Kinder und Familienmitglieder gewährleisten. Indem wir gemeinsam Rückzugsräume schaffen, klare Sicherheitsmaßnahmen ergreifen und auf Aufklärung setzen, legen wir den Grundstein für einen entspannteren Alltag, in dem jedes Kind seine Sensibilität als Stärke erleben kann.
Es ist wichtig, dass das Kind fühlen lernt, wann sich Druck in ihm aufbaut. Dann kann es sich mit der Zeit aktiv Hilfe und Unterstützung bei einer Bezugsperson einfordern, um die sozial nicht verträglichen, für alle Beteiligten sehr belastenden Wutausbrüche abzubauen, zu kontrollieren und trotzdem Druck abbauen zu lernen.
Gib das, was dir wichtig ist, nicht auf, nur weil es nicht einfach ist!
Albert Einstein

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