
Der erste Ritt: Geborgenheit auf vier Hufen
Ich sitze im Sattel, kaum älter als ein Kleinkind, und das Pferd unter mir fühlt sich an wie ein sanfter Riese. Meine beste Freundin, vier Jahre älter, hält die Zügel und umschließt mich mit ihren Armen, gibt Halt, Schutz und Vertrauen. Schon mit zweieinhalb Jahren habe ich gespürt, dass „das Glück der Erde“ wirklich auf dem Rücken dieser Tiere liegt.
Jedes Wiehern, jeder warme Atemhauch, jeder Schritt im Takt war für mich Lebenselixier, eine stille Einladung, mich fallen zu lassen.
Absturz ins Schwarz
Mit 27 Jahren änderte sich alles: Eine Embolie riss mich aus meinem Glücksrausch. Von einer Sekunde auf die andere war ich lebensbedrohlich krank, gefangen in Schmerzen und Einschränkungen. Das Pferd wurde zum unerreichbaren Traum, meine wichtigste Kraftquelle versiegte und mit ihr jede Hoffnung auf Heilung. Ich fiel in ein tiefes, schwarzes Loch, in dem weder Licht noch Bewegung einen Weg fanden.
Jahre später geschah etwas, das ich kaum in Worte fassen kann: Meine Tochter, damals gerade zweieinhalb Jahre alt, zog mich zurück ins Leben. Ihre Liebe zu Pferden war magisch, ein Reim auf meine eigenen Kindheitsmelodie. Sie hörte nicht auf, bis ich mit ihr gemeinsam auf einem Pferd saß. Ich hatte Angst. Nicht vor dem Pferd, sondern vor der Erinnerung, vor dem Schmerz, vor dem Verlust.
Doch kaum im Sattel passierte etwas: Die Angst wich und machte Platz für etwas, das ich verloren geglaubt hatte. Glückseligkeit. Frieden. Schmerzfreiheit. Für zwei Stunden war ich einfach … da.
Seitdem reite ich wieder. Regelmäßig. Und jedes Mal spüre ich, wie mein Körper sich beruhigt, wie die Durchblutung im Becken und in den Beinen in Fluss kommt. Das Gerinnsel, das seit der Embolie dort festsitzt, scheint für einen Moment in den Hintergrund zu treten.
Ich kann atmen.
Ich kann leben.
Der Tanz beginnt
Sensibel wie ein Seismograph, aber kraftvoll wie ein Traktor.
Pferde sind Wesen voller Gegensätze: feinfühlig und stark, klar und still, präsent und frei. Wer ihnen wirklich begegnet, spürt eine tiefe, uralte Kraft: unverstellt, ehrlich und heilend. Die Pferde geben nicht nur, sie empfangen auch. Wenn wir achtsam, auf Augenhöhe und mit Respekt reiten, wird jede Einheit zu einem Tanz zweier Seelen. Kein Beherrschen, kein Zwingen, sondern ein Lauschen. Eine bewegte Meditation. Wir geben einander Halt. Wir spiegeln uns. Wir heilen gemeinsam.
Wer sich einmal still in eine Pferdeherde setzt, spürt es: Diese Tiere kommunizieren jenseits von Sprache. In feinen Gesten, in winzigen Muskelbewegungen, in purer Präsenz. Ihre Intuition ist glasklar, ihre Reaktionen sind direkt und ehrlich. Sie erkennen, was in uns ist, oft, bevor wir es selbst spüren. Sie lehren uns, zu entschleunigen, zu atmen, zu sein.
Für Menschen mit chronischen Schmerzen, Traumata, Ängsten oder neurodiversen Bedürfnissen kann das Zusammensein mit Pferden wie eine Rückverbindung sein. Es geht dabei nicht um Leistung, nicht um Technik sondern um Beziehung. Um Vertrauen. Um Selbstwirksamkeit.
In der tiergestützten Therapie hat sich längst gezeigt: Pferde können Menschen mit Autismus, ADHS, Depression, Hochsensibilität oder Angststörungen auf einer tiefen Ebene erreichen. Sie urteilen nicht, sie fordern nicht, sie begegnen.
Reiten und pferdegestützte Therapie können bei vielen Krankheitsbildern unterstützen. Von neurologischen Erkrankungen wie Multipler Sklerose oder nach Schlaganfällen (Hippotherapie) bis hin zu psychischen Herausforderungen wie Depressionen oder posttraumatischen Belastungsstörungen¹.
Für Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen oder ADHS fördern Pferde die soziale Interaktion, Aufmerksamkeit und emotionale Regulation².
Doch entscheidend ist: Es darf kein einseitiges Nehmen sein. Pferde sind fühlende Wesen mit eigenen Bedürfnissen. Wenn sie respektvoll behandelt und als Partner in Resonanz wahrgenommen werden, entsteht echte Beziehung, in der beide Seiten wachsen.
Ein heilendes Band
Und diese Begegnung wirkt. Ganzheitlich. Ohne Nebenwirkungen.
Vielleicht, weil wir beim Pferd nicht funktionieren müssen.
Vielleicht, weil wir uns anlehnen dürfen.
Vielleicht, weil das Pferd nicht erwartet, sondern fühlt. Und spiegelt.
So wird jeder Ausritt zum Tanz zweier ungleicher Wesen, die in der Stille ihrer Verbindung zur Einheit finden. Der Mensch kehrt zu seiner Kraft zurück, das Pferd gewinnt an Vertrauen und Struktur. Gemeinsam weben sie eine Geschichte von Heilung, Achtsamkeit und seelischer Freiheit, ein Kunstwerk aus Bewegung, Begegnung und Vertrauen, das uns immer wieder neu zeigt, wie tiefgehende Verbindung wirken kann.
„Von allen Tieren ist das Pferd der beste Freund des Indianers, denn ohne es könnte er keine langen Reisen unternehmen. Ein Pferd ist das wertvollste Eigentum des Indianers. Wenn ein Indianer etwas erlangen möchte, verspricht er dem Pferd, dass er es mit einheimischer Farbe bemalen wird, damit alle sehen, dass ihm durch die Hilfe seines Pferdes geholfen wurde.“
— Brave Buffalo, Medizinmann der Teton Sioux
Vielleicht ist genau das der Schlüssel:
Nicht wir werden heil durch das Pferd.
Wir werden heil mit dem Pferd.
Quellen
- Theorie und Anwendung der Hippotherapie bei neurologischen Erkrankungen.
- Wirkungen pferdegestützter Interventionen bei ADHS und Autismus-Spektrum-Störungen.
https://www.tiergestuetzte-therapie.de/
https://www.dgh-ev.com/verein/hippotherapie

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