Resilienz - eine Eigenschaft, die uns heute in aller Munde begegnet, doch ihre Wurzeln liegen oft viel tiefer, als wir ahnen.

Warum ist ein Sturz manchmal der Anfang vom Fliegen?
Als kleines Kind saß ich oft mit leuchtenden Augen vor den Abenteuern von Pippi Langstrumpf. Ich erinnere mich an die Szene, in der sie ohne großes Zögern allein in die wilde Natur hinauszieht, um ein Pferd zu reiten. Als ihr Pferd stolpert und Pippi unsanft zu Boden fällt, steht sie lachend auf, klopft sich den Rock ab und ruft: „Das war ja fast wie Fliegen!“ Anstatt zu jammern, feiert sie ihren Fall als neues Abenteuer und macht sich sofort daran, weiterzumachen.
Für mich war Pippi der Inbegriff eines freien, glücklichen Kindes: mutig, abenteuerlustig und voller Zuversicht. Sie zeigt uns, dass Scheitern nicht das Ende ist, sondern Teil des Spiels. Dies ist der erste Schlüssel zur Resilienz: Fehler werden nicht verteufelt, sondern als Chance zum Lernen gefeiert.
Was macht eine freie Kindheit so stark?
Meine eigene Kindheit glich einer Achterbahnfahrt: nicht linear, nie vorgeplant und voller Entdeckungen. In einer großen Familie mit Großeltern zur Seite wuchsen wir frei auf: Wir kletterten auf Bäume, bauten Höhlen und lösten unsere Streitigkeiten untereinander, ganz ohne pädagogisch wohlmeinende Eingriffe.
Wir durften uns ausprobieren. Einmal plumpsten wir beim Schlittenfahren in den eiskalten Bach, doch statt vermutetem Tadel gab es nur heißen Kakao und Ermutigung: „Probier’s nochmal.“ Diese Erfahrungen weckten Nervenkitzel und Schmetterlinge im Bauch, und das Gefühl, etwas ganz allein geschafft zu haben, löste pure Glücksgefühle aus.
Was dabei im Gehirn geschieht, ist faszinierend: Jedes noch so kleine Erfolgserlebnis, sei es das erste gebundene Schleifenband oder der eigenständig erkletterte Baum, führt zu einer Ausschüttung von Glückshormonen wie Serotonin und Endorphinen. Diese Botenstoffe machen nicht nur glücklich, sondern verankern das positive Erlebnis tief im Gedächtnis. Die Fähigkeit, Glück zu empfinden, setzt also voraus, dass wir das Gehirn überhaupt anregen, uns mit Glückshormonen zu fluten. Wenn wir Kinder immer vor Misserfolgen bewahren, nehmen wir ihnen genau diese Möglichkeit: das echte Glück zu erleben, das entsteht, wenn sie selbst über einen Misserfolg hinauswachsen, aus Fehlern lernen und es noch einmal probieren, diesmal erfolgreich.
Dieses Auf und Ab, das eigene Scheitern und erneute Aufstehen, formte mein Vertrauen in das Leben. Ich erlernte ganz spielerisch: Wer fällt, lernt das Aufstehen. Wer wagt, gewinnt neue Selbstwirksamkeit.
Warum nehmen wir unseren Kindern das Glück des Gelingens?
Heute sieht Kindheit oft anders aus: durchgetaktet wie ein Erwachsenerterminplan. Kita, Schule, Nachhilfe, Musikschule, Sport, Therapie. Kaum ein Moment bleibt, um sich selbst zu finden. Sobald etwas mehr Zeit bleibt, rufen wir: „Beeilt euch! Sonst kommen wir zu spät!“ Schnell noch die Schuhe anziehen, schnell noch ins Auto. Doch damit nehmen wir den Kindern genau den Raum, den sie brauchen.
Der ständige Zeitdruck mindert die Chance auf echte Selbstwirksamkeit. Wenn Eltern aus Sorge und Hektik eingreifen, lösen sie zwar kurzfristig Probleme, entziehen den Kindern aber die Kraftquelle der eigenen Erfahrung. Sie nehmen ihnen die Zuversicht, dass sie schwierige Situationen selbst meistern können und schwächen so ihre Widerstandskraft.
Wie viel Freiheit brauchen Kinder, um stark zu werden?
Wir dürfen unseren Kindern wieder Vertrauen schenken und Freiräume eröffnen:
Unstrukturiertes Spielen fördern: Lasst Kinder im Dorf, im Garten oder im Park öfter wieder ganz allein erkunden – ohne ständigen Erwachsenen-Eingriff.
Scheitern zulassen: Wenn ein Bau einstürzt oder ein Sprung misslingt, ist das kein Drama, sondern eine wertvolle Lektion. Feiern wir Fehler als Teil des Lernprozesses.
Natur als Lernort nutzen: Wald, Wiese und Bach bieten endlose Herausforderungen und Spielräume für Kreativität und Problemlösung.
Eigenverantwortung stärken: Kleine Aufgaben wie Schuhe binden, Jacke anziehen oder Wege erkunden schenken Kindern Mut und Selbstvertrauen.
Zeitdruck abbauen: Weniger Programme, mehr Muße. Ein freier Nachmittag ohne festen Plan kann Wunder wirken.
Auch in Einrichtungen ist mehr kindliche Freiheit möglich, trotz Aufsichtspflicht:
Mut-Zonen einrichten: Abgegrenzte Spielbereiche, in denen Kinder unter diskreter Aufsicht Risiken erproben dürfen, etwa beim Balancieren, Klettern oder Bauen.
Selbstverantwortung im Alltag fördern: Im Freispiel bewusst zurücktreten, Kindern eigene Entscheidungen zutrauen und Angebote reduzieren.
Wir dürfen den Kindern mehr Freispielzeit geben, den Tag nicht komplett durchtakten. Weniger ist mehr, auch im pädagogischen Alltag.
Gestalten wir Spielräume drinnen wie draußen so, dass sie zum Zweckentfremden einladen, zur Kreativität und zur Selbstwirksamkeit.
Indem wir diese Prinzipien umsetzen, geben wir Kindern nicht nur Raum zum Glücklichsein, sondern auch ein festes Fundament für ihre Resilienz.
Was würde Pippi tun und was können wir von ihr lernen?
Pippi Langstrumpf lehrte uns, dass ein Sturz kein Unglück, sondern der Anfang eines kühnen Abenteuers sein kann. Meine Kindheit zeigte, wie Freiheit, Ermutigung und echte Selbstwirksamkeit Resilienz wachsen lassen. Heute berauben wir Kinder oft dieser inneren Schätze, nicht aus bösem Willen, sondern aus Angst und dem Wunsch, alles richtig zu machen.
Doch Kinder brauchen keine Perfektion, sondern Vertrauen: in sich selbst und in die Welt. Resilienz entsteht nicht durch Absicherung, sondern durch das Erlebnis, dass man an Herausforderungen wächst. Nicht das Vermeiden von Fehlern, sondern das mutige Weitergehen macht stark, mit aufgeschürftem Knie, pochendem Herzen und funkelnden Augen.
Wenn wir uns trauen, wieder mehr zuzulassen, Scheitern, Stille, Staunen, dann geben wir unseren Kindern etwas Unbezahlbares mit auf den Weg: die Fähigkeit, im Fallen das Fliegen zu entdecken.
Resilienz beginnt dort, wo Vertrauen Wurzeln schlägt: in der Freiheit, zu erleben, zu wachsen und zu staunen. Vielleicht ist das größte Geschenk, das wir unseren Kindern, nicht nur den hochsensiblen, machen können: Nicht Schutz, sondern Flügel.
Denn am Ende des Tages sind wir alle ein wenig wie Pippi: Wir fallen, wir stehen auf und wir rufen lachend: „Das war ja fast wie Fliegen!“

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