Ein stilles Fest der Sensibilität Was mir eine Pferdeherde über echte Führung zeigte

Veröffentlicht am 7. Juni 2025 um 17:07

 

Gestern war ich erschöpft. Mein ganzer Körper schmerzte. Jede bewusste Bewegung auf dieser riesigen Weide forderte ihre Nachwirkung. Und gleichzeitig war ich still beseelt. Denn ich durfte erleben, wie meine Sensibilität nicht zur Last wurde, sondern zur Führungskraft, inmitten einer Pferdeherde, die mich beobachtete, prüfte und am Ende respektvoll akzeptierte.

 

 

Eine Herde, ein Wallach und ich mittendrin

 

Ich wollte "nur kurz" meinen Partner von der Weide holen, einen lieben braunen Wallach, um mit ihm auszureiten.

Normalerweise ist er sehr zugänglich, menschenbezogen, freundlich. Doch an diesem Tag waren die Stuten rossig und seine Prioritäten ganz woanders. Sobald ich mich näherte, lief er davon, immer wieder.

Sein Signal war deutlich: Ich gehe nicht mit. Noch nicht.

Es entwickelte sich ein schweißtreibendes Spiel aus feiner Komunikation ohne Worte, nur mit sehr bewusster Körpersprache, feinste Zeichen aus Anspannung und Entspannung, Zuwendung und Abwendung, aus „Ich verstecke mich“ seinerseits und „Wegschicken“ meinerseits.

 

Die Überraschung: Die Herde beobachtete mich genau und respektierte mich. Sie wich mir aus, schenkte mir Raum. Zwei Stuten traten sogar aus dem Verbund heraus und schienen mich zu unterstützen, indem sie den Wallach zur Ordnung riefen, wenn er sich inmitten der Herde „versteckte“.

Nach fast einer Stunde intensiver Körpersprache, bewusster Präsenz und unermüdlichem Dranbleiben veränderte sich etwas. Der Wallach blieb stehen, atmete ab, richtete die Ohren auf mich.

Jetzt kannst du kommen, sagte sein Blick. Ich bin bereit.

 

Es war einer dieser leisen, tiefen Momente, die unter die Haut gehen. Keine Eroberung, keine „Dressur“. Sondern ein gegenseitiges Erkennen. Eine Verbindung auf Augenhöhe. Und der stille Beweis: Echte Führung beginnt innen.

Was mich dieses Erlebnis lehrte, geht weit über den Umgang mit Pferden hinaus.

 

Ein Wiedererkennen in meinem alten Ich und ein Aha-Moment

 

Dieses Erlebnis brachte mich mit einer alten Erinnerung in Berührung: meinem Einstieg ins Berufsleben.


Damals fühlte ich mich oft überfordert. Nicht, weil ich unfähig war, sondern, weil ich anders war. Ich wusste noch nicht, dass ich zu den 20–30 % der Menschen gehöre, die ein besonders sensibles Nervensystem haben. Aber ich fühlte: Ich war anders. Ich fühlte intensiver, nahm mehr wahr, erschöpfte schneller, brauchte mehr Pausen.

Meine Interessen waren vielseitig, aber ich spürte keine klare Berufung. Mein Herzensberuf wäre Tierärztin gewesen, doch mein tiefes Mitgefühl, meine starke Empathie für leidende Tiere lähmte mich fast. Ich spürte ihre Schmerzen wie meine eigenen. Damals wusste ich noch nicht, wie ich mich abgrenzen sollte, wie ich unterscheiden konnte zwischen meinen eigenen Emotionen und die meines Gegenübers.

 

So wurde ich Erzieherin, eine Entscheidung der Vernunft, zunächst nicht des Herzens. Auch dort traf mich das volle Leben. Die Geräuschkulisse, die vielen kleinen emotionalen Spannungen, das ständige Reagieren-Müssen, Wahrnehmungen in einer Fülle und Tiefe, die manchmal schmerzte. Ich versuchte, mich anzupassen, „normal“ zu funktionieren und verlor mich dabei fast. Das Ergebnis: Erschöpfung. Reizüberflutung. Selbstzweifel.

 

Dass Hochsensibilität kein Defizit ist, sondern ein anderes Betriebssystem verstand ich damals noch nicht. Das meine tiefe Wahrnehmung mir wertvolle Hinweise geben konnte, war mir noch nicht bewusst. 

Ich fühlte mich oft fehl am Platz, zerrieben zwischen Anspruch und Mitgefühl.  Und doch blieb ich. Vielleicht, weil eine leise Stimme in mir flüsterte: „Da ist etwas in dir, das gebraucht wird, auch wenn es jetzt noch niemand benennen kann.“

 

Was mir die Herde über mein Berufsleben verrät

 

Was hat nun eine Pferdeherde mit dem Berufsleben zu tun?
Mehr, als man auf den ersten Blick denkt, besonders, wenn man hochsensibel ist.

Denn Hochsensibilität ist keine Schwäche. Sie ist eine andere Form von Wahrnehmung. Und wenn wir lernen, sie zu regulieren und zu nutzen, wird sie zur Stärke.

In der Situation mit der Herde habe ich nichts "erzwungen". Ich war nicht laut, nicht fordernd, aber ganz da. Mit klarer Ausstrahlung, Geduld, Präsenz. Die Pferde verstanden mich, weil ich sie verstand. Meine feine Wahrnehmung erlaubte es mir jede Gefühlsregung, jeden Richtungswechsel im Vorraus zu erfühlen.

 

Exakt das passiert in Teams: Hochsensible Menschen spüren Spannungen früh, erkennen feine Signale, nehmen unausgesprochene Bedürfnisse wahr. Das ist anstrengend. Aber es ist auch wertvoll für jede Gruppe, jedes Team, jedes System.

 

Meine alte innere Stimme sagte: „Ich bin zu sensibel für den Stress im Beruf.“

Heute weiß ich: „Ich bin sensibel und das ist eine Ressource.“

 

Dreißig Jahre sind seitdem vergangen. Ich weiß heute: Meine damalige Überforderung war kein Zeichen von Schwäche, sondern ein Aufruf, mich selbst besser kennenzulernen.

 

Heute kann ich sagen: Ich bin nicht zu sensibel für den Stress im Beruf. Ich nehme Dinge wahr, die andere oft übersehen. Das kostet Energie, aber bringt Tiefe, Klarheit und Verbindung.

Wenn ich lerne, mich gut zu regulieren, meine Grenzen zu wahren und Pausen einzuplanen, bin ich ein wertvoller Teil jedes Teams, gerade weil ich so sensibel bin. 

Und genau das spiegelte mir die Pferdeherde.

Es kostet Energie, so viel wahrzunehmen. Aber es bringt Tiefe, Verbindung, Feinfühligkeit.

 

Wenn ich mir Raum zur Regeneration gebe, Grenzen wahren lerne und meine Wahrnehmung nicht unterdrücke, sondern einbringe, bin ich nicht zu sensibel, sondern genau richtig. Dann bin ich mit mir im Reinen.

Ich bin kein „Systemfehler“, sondern Teil einer viel feineren Ordnung.

 

Was auf der Weide geschah geschieht auch im Berufsleben

 

Die Situation mit dem Wallach war wie ein Lehrstück für den Arbeitsalltag, nur ohne Worte. Hier ein paar Parallelen auf einen Blick:

 

Pferdeherde vs. Beruflicher Alltag

 

Präsenz ohne Lautstärke vs. Wirkung durch innere Klarheit statt Dominanz

 

Nicht jeder folgt sofort vs. Führung heißt nicht: kontrollieren, sondern einladen

 

Geduld und Klarheit werden erkannt vs. Sensible Stärke wird sichtbar, wenn sie sich zeigt

 

Rückzug eines Pferdes = kein Nein, sondern noch nicht vs. Menschen brauchen manchmal Zeit, um Vertrauen zu fassen

 

Freiwillige Verbindung vs. Verbindung entsteht aus Echtheit nicht aus Druck

 

 

 

Fünf Wege in deine Kraft

 

  1. Plane Rückzugszeiten fest ein. Du brauchst keine Dauerbelastung zu ertragen. Regeneration ist kein Luxus, sondern Notwendigkeit.
  2. Kommuniziere deine Bedürfnisse klar. Wer dich verstehen soll, muss wissen, was dir hilft. Das ist keine Schwäche, sondern Verantwortungsbewusstsein.
  3. Umgib dich mit Menschen, die deine Tiefe würdigen. In einem wertschätzenden Umfeld blüht deine Sensibilität auf und nicht aus.
  4. Lerne Selbstregulation. Atemübungen, Meditation, EFT, Klang, Schreiben:  finde deine Tools, die dir helfen, aus Stress wieder in deine Mitte zu kommen.
  5. Finde dein persönliches Druckablassventil. Für manche ist es Sport, für andere Spazierengehen, Malen oder Reiten. Was auch immer es ist: integriere es regelmäßig in deinen Alltag.

 

Hochsensible Menschen führen anders, aber sie führen.

 

Vielleicht sind wir nicht für das klassische „Funktionieren“ gemacht.
Nicht für den lauten Auftritt, sondern für das Beziehungsgeflecht, das unter der Oberfläche wirkt. Nicht für schnellen Aktionismus, sondern für den Raum, in dem echte Begegnung möglich wird.

 

Beruf findet nicht nur in Büros statt. Viele hochsensible Menschen wirken dort, wo Nähe, Tiefe und echtes Zuhören gebraucht werden: in Kliniken, Schulen, Kitas, Heimen. Andere in kreativen Berufen, als Kunstschaffende Coaches, Designer. Und ja, manche auch in Büros, still, klar, empathisch.

 

Manchmal braucht es nur ein Pferd, das sich dir zuwendet, um dir zu zeigen, was wir im Arbeitsalltag oft vergessen und um zu begreifen:

Führung beginnt bei innerer Klarheit und Sensibilität ist ihre Wurzel.

Oder wie ein Spruch aus dem Natural Horsemanship sagt:

„Pferde folgen nicht dem, der herrscht - sondern dem, der fühlt.“

 

 

 

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