„Und täglich grüßt der Brokkoli“, Warum wählerisches Essverhalten (k)ein Problem ist und wie wir Kinder beim Essen wirklich unterstützen können

Veröffentlicht am 4. August 2025 um 10:40

 

"Wieder Brokkoli!", das Kind streikt.

Nicht zum ersten Mal. Der Löffel bleibt stehen, das Gesicht verzieht sich, das Essen wird beiseitegeschoben. Als Eltern oder pädagogische Fachkraft stehen wir daneben, frustriert, ratlos, manchmal sogar ärgerlich. Wieder dieser tägliche Kampf am Esstisch. Warum nur? Und wie lange noch?

Diese Situationen kennen viele von uns. Wir machen uns Sorgen, ob das Kind genug Nährstoffe bekommt. In uns steigt ein innerer Druck auf, weil wir das Beste für unser Kind wollen. Aber Druck, das wissen wir eigentlich, hilft selten. Im Gegenteil.

Was viele nicht wissen: Das, was wir als "Picky Eating" kennen, ist oft kein Zeichen von Trotz oder schlechter Erziehung. Es kann ein Entwicklungsschritt sein. Oder eine feine, sensorische Reaktion auf Reize. Oder beides.

In diesem Beitrag werfen wir einen tieferen Blick auf ein Phänomen, das viele Kinder betrifft. Unabhängig davon, ob sie hochsensibel sind oder nicht: die Neophobie, die Angst vor Neuem. Besonders beim Essen.

Wenn du schon einmal meinen Beitrag über hochsensible Kinder und ihre besondere Beziehung zum Essen gelesen hast, erinnerst du dich vielleicht: Dort ging es um die intensive Wahrnehmung, die überfordern kann, um Sinneseindrücke, die stärker, lauter, wilder schmecken.

Heute möchte ich diesen Faden aufgreifen und erweitern. Denn: Picky Eating betrifft nicht nur hochsensible Kinder. Es hat auch eine ganz natürliche entwicklungspsychologische Seite, die oft übersehen wird: die Neophobie.

Ich lade dich ein, den Blick zu weiten und dabei das Herz offen zu halten. Für dein Kind, die dir anvertrauten Kinder. Und für dich.

 

Bild: privat

 

Neophobie, Eine ganz normale Entwicklungsphase

 

Zwischen dem 2. und 6. Lebensjahr durchlaufen viele Kinder eine Phase, in der sie neue Lebensmittel strikt ablehnen. Diese "neophobe Phase" ist keine Laune, sondern ein Überlebensinstinkt.

Aus entwicklungspsychologischer Sicht ergibt das Sinn: Kinder werden in diesem Alter mobiler und unabhängiger. In der Steinzeit bedeutete das, dass sie potenziell Zugang zu giftigen Pflanzen oder ungenießbaren Dingen hatten. Also entwickelte sich ein Schutzmechanismus: "Iss nur, was du kennst." Neues wird zunächst mit Skepsis begegnet, ganz instinktiv.

Schon unsere frühesten Vorfahren wussten: Was die Erwachsenen essen, scheint sicher zu sein. Kinder orientierten sich am Verhalten der Großen. Auch heute brauchen Kinder Vorbilder und Wiederholung. Studien zeigen, dass ein Kind ein neues Lebensmittel oft 15–20-mal sehen, riechen oder in der Nähe erleben muss, bevor es bereit ist, zu probieren. Das erfordert vor allem eins: Geduld und Vertrauen.

 

 

Mit allen Sinnen: Warum Kinder mit den Fingern essen wollen und sollten

 

Bevor Kinder Besteck sicher handhaben können, brauchen sie eine wichtige sensorische Lernerfahrung: das Essen mit den Fingern.

Durch das Berühren der Speisen mit den Händen erhalten sie entscheidende Informationen über Temperatur, Textur, Feuchtigkeit und Konsistenz.

Diese taktilen Reize sind nicht bloß „Kleckerei“, sondern ein essenzieller Teil der sensorischen Integration. Wenn Kinder Speisen nicht anfassen dürfen, fehlen ihrem Gehirn wichtige Hinweise, das kann Unsicherheit und Ablehnung verstärken.

Gerade bei Picky Eatern zeigt sich: Die fehlende haptische Erfahrung kann dazu führen, dass Lebensmittel gar nicht erst ausprobiert werden. Deshalb: Fingerfood darf (und sollte) in der frühen Essensphase dazugehören, als Einladung, mit allen Sinnen zu entdecken.

 

 

Wenn die Atmosphäre zur Hürde wird

 

Besonders in der Kita-Zeit ist die neophobe Phase herausfordernd: Neue Räume, neue Gerüche, fremde Abläufe und dazu unbekanntes Essen. Viele Kinder sind schlicht überfordert. Besonders, wenn das Essen aus Großküchen kommt: weichgekochtes Gemüse, Soßen, unkenntliche Komponenten.

Das Kind sitzt vor dem Teller, verzieht das Gesicht. Ein Erzieher sagt: "Du musst doch wenigstens probieren." und das Kind spürt: "Meine Grenze zählt nicht."

Was dann folgt, ist kein Trotz, sondern Rückzug. Verweigerung. Kein Spiel um Macht, kein Austesten. Kinder stellen keine pädagogischen Fachkräfte auf den Prüfstand. Sie fragen nicht: "Wer gewinnt?" Sondern: "Bin ich sicher? Wird mein Nein gesehen?"

Das Selbstwertgefühl kann unter diesen ständigen Kämpfen leiden. Wenn Kinder den Eindruck gewinnen, dass sie sich durchsetzen müssen, verschließen sie innerlich die Tür, aus Schutz. Nicht, weil sie wollen. Sondern, weil sie müssen.

 

 

Sensorische Empfindlichkeit: Wenn alles zu viel wird

 

Einige Kinder erleben Essen besonders intensiv. Sie riechen, schmecken und fühlen mit hoher Sensitivität. Besonders hochsensible Kinder reagieren stark auf Konsistenz, Temperatur, Geschmack, Gerüche und Geräusche.

Aber auch viele nicht-hochsensible Kinder sind phasenweise empfindlich. Ein Auflauf mit vermischten Zutaten kann zu einem unlösbaren Rätsel werden. Was für Erwachsene ein Wohlfühlessen ist, ist für diese Kinder ein Teller voller Fragezeichen. Ihre Geschmacksknospen entwickeln sich noch und was gestern neutral war, ist heute zu intensiv oder "komisch".

 

Warum Druck nicht hilft, sondern Vertrauen zerstört

Wenn wir Kinder zwingen zu essen, wenn wir tricksen, belohnen, drohen oder beschämen, passiert etwas Entscheidendes: Das Kind verliert den Kontakt zu seiner Körperwahrnehmung. Es lernt: "Ich muss etwas tun, das sich falsch anfühlt, um dazuzugehören."

Langfristig untergräbt das das Selbstbewusstsein. Druck erzeugt immer Gegendruck, besonders bei sensiblen oder selbstbestimmten Kindern. Die Tür zum Erleben und Erkunden schließt sich. Was bleibt, ist Widerstand, oder Anpassung auf Kosten der eigenen Wahrnehmung.

 

 

Was wirklich hilft: Haltung, Beziehung und Geduld

 

Eine entspannte Essenssituation entsteht nicht durch Kontrolle, sondern durch Vertrauen. Kinder brauchen:

  • Vertraute Atmosphäre: ruhig, liebevoll, ohne Medien und mit vertrauten Menschen.
  • Keine Tricks oder Drohungen: Kinder spüren Manipulation sofort.
  • Mitbestimmung im sicheren Rahmen: z. B. "Möchtest du den Kohlrabi als Würfel oder Scheiben?" - Nicht "Was möchten du heute essen?" Ein zu großer Rahmen verunsichert, ein gesteckter Rahmen gibt Halt.
  • Komponenten getrennt servieren: besser als vermischte Aufläufe.
  • Geduld durch Wiederholung: 15–20 Begegnungen braucht es manchmal, bevor ein Kind sich für eine Speise öffnen kann.
  • Blutzucker im Blick: lieber nur Nudeln als nichts. Unterzuckerung verschärft die Lage.
  • Selbstbestimmung stärken: "Ich sehe dich. Du darfst dein Tempo wählen."

 

Bild: Freepik

 

Türen öffnen statt schließen

 

Was Kinder beim Essen brauchen, ist keine Erziehung. Sie brauchen Einfühlung. Keine Kontrolle, sondern Begleitung. Keine Tricks, sondern Ehrlichkeit.

„Ich bin hier. Ich bleibe bei dir. Und wenn du soweit bist, kannst du mich an der Hand holen und mit mir durch diese Tür gehen.“

 

„Kinder lernen das, wofür sie begeistert werden,

nicht das, wozu sie gezwungen werden.“

Gerald Hüther

 

Denn was zählt, ist nicht der leere Teller,

sondern das volle Herz.

 

 

Weiterführender Artikel:

  • Hochsensible Kinder und Essen: https://www.starke-sensibelchen.de/blog/2403561_picky-eater-hochsensible-kinder-und-essen-warum-vertrauen-wichtiger-ist-als-druck

Quellen (Auswahl):

  • Dovey, T. M. et al. (2008). Food neophobia and ‘picky/fussy’ eating in children: A review. Appetite 50(2–3), 181–193.
  • Schulte-Markwort, M. (2016). Psychosomatische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen.
  • Aron, E. N. (2012). The Highly Sensitive Child.

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