Hochsensible Menschen und Medikamente - wenn das Nervensystem feiner reagiert

Veröffentlicht am 15. August 2025 um 14:59

 

Menschen mit einem besonders sensiblen Nervensystem, in der Fachsprache „Sensory Processing Sensitivity“ (SPS) oder umgangssprachlich „Hochsensibilität“ (HSP), verarbeiten Sinnes- und Gefühlsreize intensiver als andere.

Dieses fein eingestellte Wahrnehmungssystem ist ein wertvolles Geschenk, kann aber in manchen Lebensbereichen auch besondere Herausforderungen mit sich bringen.


Eine wichtige, aber bislang wenig beachtete Facette: die Reaktion auf Medikamente,

und zwar bei Kindern und Erwachsenen gleichermaßen.

 

Foto: Freepik

 

Stell dir ein Kind vor, das jeden Ton, jede Bewegung, jeden Blick im Klassenraum wahrnimmt.
Das Geräusch eines umfallenden Bleistifts.
Das Flackern der Neonröhre.
All das dringt nicht wie bei anderen in den Hintergrund, sondern ins volle Tagesbewusstsein und macht nervös.

Die Mischung aus Stimmen und Gerüchen ist wie ein ständiger Sturm.

Dieses Kind erhält nach einer ADHS-Diagnose ein Stimulanz (z. B. Ritalin, Medikinet).
Innerhalb weniger Tage ist es unruhiger, schläft kaum noch, wirkt wie „außer sich“.
Was als Hilfe gedacht war, verstärkt plötzlich genau das, was schon belastet.

Was Forschung bisher zeigt

 

Elaine Aron und ihr Forschungsteam konnten in Befragungen zeigen, dass Menschen mit SPS häufiger und teils intensiver auf Medikamente reagieren, sowohl auf gewünschte Wirkungen als auch auf Nebenwirkungen (Aron et al., 2010).

Ein hochfunktionales Nervensystem erkennt und reagiert schneller, manchmal auch auf sehr geringe Dosierungen. Das kann nützlich sein, wenn Mediziner und Patienten dies wissen und berücksichtigen, oder problematisch, wenn es unbedacht bleibt.

 

Für den Alltag in der Klinik heißt das: Standarddosierungen können bei Hochsensiblen (HSP) eine überproportional starke Wirkung haben – sowohl positiv als auch negativ.


Quelle: Aron, E. N., et al. (2010). Sensory Processing Sensitivity and its implications in clinical practice.

 

 

Warum das wichtig ist

 

Eine falsche Einschätzung kann weitreichende Folgen haben, gesundheitlich, aber auch psychisch.

 

Bei Kindern können Fehldiagnosen entstehen, etwa wenn SPS mit ADHS verwechselt wird. Bei Erwachsenen kann eine Standarddosierung unnötig starke Nebenwirkungen hervorrufen. Deshalb ist es entscheidend, SPS/HSP von anderen Störungsbildern wie ADHS sauber abzugrenzen, bevor Medikamente verordnet werden.

 

Fehldiagnose ADHS

Viele hochsensible Kinder werden vorschnell als ADHS-Patienten eingestuft.
Symptome wie Ablenkbarkeit, motorische Unruhe oder Tagträumen sind bei HSP oft eine Reaktion auf Reizüberflutung, nicht auf einen Aufmerksamkeitsmangel.

Hochsensible Kinder können lernen, mit der Reizflut umzugehen, durch Abgrenzung, Techniken, eine vertrauensvolle Umgebung und unterstützende Begleiter.
Werden dennoch Stimulanzien verordnet, kann sich der Stresspegel drastisch erhöhen, denn das hocheffiziente Nervensystem reagiert besonders stark auf die zusätzliche Aktivierung.

 

Steroide (Cortison)

Steroide können Leben retten und schwere Entzündungen lindern, doch sie erhöhen auch Blutdruck, Herzfrequenz, Wachheit und Sinneswahrnehmung.

Für HSP bedeutet das:

  • Licht wirkt greller
  • Geräusche erscheinen lauter
  • Gerüche intensiver

Der beschleunigte Puls, der höhere Blutdruck und sogar die gesteigerte Organaktivität werden oft bewusst wahrgenommen und führen nicht selten zu Ängsten und Panikattacken.
Schlafprobleme, Nervosität und innere Anspannung können so zu Therapieabbrüchen führen, obwohl das Medikament medizinisch nötig wäre.

 

Psychische Folgen

Verstärkte Nebenwirkungen werden bei HSP nicht selten als „psychosomatisch“ oder „Überempfindlichkeit“ abgetan.
Das Nicht-ernstgenommen-Werden kann zusätzlich zu Angst, Rückzug und einem Verlust des Vertrauens in den behandelnden Arzt führen.


Quelle: Homberg, J. R., et al. (2016). The neurobiology of sensitivity.

 

 

Handlungsbedarf in der Praxis

 

Hier braucht es vor allem eines: Aufklärung und Sensibilität in der medizinischen Arbeit.

 

  • Frühe Sensibilisierung in der Ausbildung: Medizinisches Fachpersonal sollte bereits im Studium lernen, wie SPS erkannt wird, um Über- oder Fehldiagnosen zu vermeiden.
  • Genaues Zuhören: Patienten fühlen sich ernst genommen, wenn ihr Empfinden nicht abgetan wird. Wer HSP ist, kann oft sehr präzise schildern, wie sich ein Medikament anfühlt. Das ist wertvolle Information für die Therapie.
  • Offenheit und Gesprächsbereitschaft: Gemeinsam nach Lösungen suchen, statt Standardwege starr abzuarbeiten.
  • Keine Manipulationsversuche: Hochsensible spüren das meist sofort und verlieren dadurch Vertrauen.
  • Individuelle Dosierung: Langsames Eindosieren und engmaschige Beobachtung können Nebenwirkungen verringern und die Wirksamkeit erhöhen.

 

Quelle: Pluess, M., & Boniwell, I. (2015). Sensory Processing Sensitivity and its clinical applications.

 

 

Mein Appell an Forschung und Praxis

 

Die Studie von Aron et al. ist ein wichtiger erster Schritt.
Doch wir brauchen mehr:

  • Vergleichsstudien zu spezifischen Medikamentengruppen
  • Langzeitbeobachtungen bei HSP-Kindern
  • Screening-Fragen zur Erfassung von SPS vor Therapiebeginn

 

Nur wenn Forschung und Praxis zusammenarbeiten, können wir verhindern, dass das, was helfen soll, am Ende schadet.

 

Hochsensibilität ist keine Krankheit, aber sie beeinflusst, wie wir Medikamente wahrnehmen und verarbeiten.

 

Wer das versteht, kann Behandlungen wirksamer, verträglicher und menschlicher gestalten.


Denn manchmal braucht Heilung vor allem eines: Feinfühligkeit.

Für Betroffene: Dein persönliches Notfallköfferchen

 

Manchmal lässt sich eine medikamentöse Behandlung nicht vermeiden. Dann ist es hilfreich, vorbereitet zu sein, wie mit einem kleinen Erste-Hilfe-Koffer, den du immer bei dir hast.

Mit einem solchen Köfferchen bist du nicht nur vorbereitet, du bleibst auch handlungsfähig und selbstbestimmt.

 

 

 

 

Grafik: Kerstin Kröffges-Hahn/ Starke-Sensibelchen

 

 

Quellen

  • Aron, E. N., et al. (2010). Sensory Processing Sensitivity and its implications in clinical practice.
  • Homberg, J. R., et al. (2016). The neurobiology of sensitivity.
  • Pluess, M., & Boniwell, I. (2015). Sensory Processing Sensitivity and its clinical applications.

 

 

Jeder Arzt muss reich an Wissen sein

nicht nur an dem, was in Büchern steht;

seine Patienten sollten sein Buch sein,

und sie werden ihn niemals in die Irre führen.

Paracelsus

 

 

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